Die Vergangenheit ist nicht das natürliche Habitat von Kindern und Jugendlichen. Doch leicht lässt sich ihr Interesse für Geschichte entflammen durch detailgenaue Erzählungen, Begegnungen mit authentischen Relikten und eigene Untersuchungen. Stolpersteine liegen in fast jeder deutschen Stadt im Bürgersteig und markieren den letzten freigewäh ten Lebensort von jüdischen und anderen durch die NS-Gewaltherrschaft Verfolgten. Dürre Angaben zu Namen, Lebensdaten und, sofern bekannt, Todesart machen sichtbar, an wie vielen Orten Unschuldige aus ihrem Leben gerissen wurden. Zugrunde liegen Forschungen zum Beispiel durch Schüler:innen, die im Landesarchiv Akten der NS-Bürokratie einsahen. Oft ist die Liste der Habseligkeiten das letzte, aber erzwungene Lebenszeichen vor Deportation und Ermordung. Archive ermöglichten unseren Jugendlichen, anhand der Original-Akten Biografien anfänglich zu rekonstruieren. Dadurch erhält die Beraubung durch den NS-Unrechtsstaat Namen der Opfer, selten überlieferte Fotos geben ihnen sogar Gesichter.
Zur feierlichen Stolperstein-Legung referierten wir die historischen Ergebnisse öffentlich – diese erhielten eine Relevanz, die man mit einer Epochenabschlussarbeit nie erzielen könnte. Der Besuch von Gedenkstätten ist in den meisten staatlichen Lehrplänen obligatorisch. Nach der Rückkehr von einer Auschwitz-Fahrt die eigenen Erlebnisse anderen Mitschüler:innen im Rahmen einer Feier zum jährlichen Holocaust-Gedenktag am 27. Januar zu berichten, kann diese Auseinandersetzung mit Gewaltgeschichte auch Jüngeren vermitteln. Um ins persönliche Gespräch zu kommen, bildeten wir zu einzelnen Aspekten kleine Murmelgruppen, die man mehrfach wechselte, um Verschiedenes zu hören.
Akten wälzen ist spannend
Hilfsbereit versorgen Archivar:innen Schüler:innen mit Quellen auch zu Anfragen nach Spuren vom Leben der Kinder und Jugendlichen in ihrem Heimatort. So treten unerwartete Funde zutage, etwa das Foto eines stolzen Gymnasialdirektors mit zig Oberstufenschüler:innen, die er 1915 begeistern konnte, als Soldaten in den Ersten Weltkrieg zu ziehen. So wird die Landesgeschichte auf lokale Verhältnisse heruntergebrochen und stärker erfahrbar gemacht. Für die jüngere Vergangenheit bieten sich Zeitzeug:innen-Befragungen auch im Familienkreis an. Für die ältere Historie sind andere Herangehensweisen nötig. Immer wenn ich eine zehnte Klasse zu betreuen hatte, bemühte ich mich für das Vermessungs-Praktikum um Aufträge vom Denkmalschutz. So konnte ich bronzezeitliche Hügelgräber einmessen und in eine genaue Karte zeichnen lassen oder die Ruine einer im Zweiten Weltkrieg zerstörten Kirche im Oderbruch. Durch den täglichen Gang auf das Messgelände verbinden sich die Jugendlichen stärker mit der historischen Atmosphäre des Ortes. Sinnstiftend wirkte der Besuch Verantwortlicher aus dem Denkmalamt, des Pfarrers und der Bürgermeisterin.
Warum nicht mal Schulwände bemalen?
Lange dunkle Flure unseres in DDR-Zeiten errichteten Schulbaus boten sich dafür an, das Durchschreiten durch historische Bilder etwas angenehmer zu gestalten. In Absprache mit den Entscheidungsträger:innen gestaltete eine zwölfte Klasse die wichtigsten Epochen der Architekturgeschichte.Die Jugendlichen erleben mit solchen Projekten Geschichte intensiver und erfahren dadurch Selbstwirksamkeit. Das Geschichtswerkstätten-Prinzip Grabe, wo du stehst stärkt die Beteiligung der Schüler:innen und ihre Verbindung zum Schulumfeld. Die Auseinandersetzung kann auch im Film festgehalten werden, sei es durch Zeitzeug:innen-Befragung, sei es, dass die Jugendlichen vor Ort die aus Büchern und anderen Quellen erforschten Ergebnisse erzählen. So drehten wir einen knapp einstündigen Film zum Verlauf der Mauer zwischen Potsdam und West-Berlin und beschrieben darin Fluchtgeschichten, aber hörten auch die Aussagen eines Grenzsoldaten, also Täters, warum er wie handelte.
Ein Nebeneffekt zeigt sich darin, dass der Kreis der Erzählenden diverser wird. Damit kommt man weg vom teilweise als autoritär empfundenen Lehrenden-Vortrag und lernt, Geschichte multiperspektivisch zu betrachten. Als Waldorf-Lehrkraft fragt man sich vielleicht, woher man die Zeit nehmen soll, solche Ideen zu stemmen. Am geeignetsten ist regelmäßiger fächerübergreifender Projekt-Unterricht, wie er an der Waldorfschule Potsdam seit vielen Jahren etabliert ist. Man kann im Team arbeiten, vielleicht sogar mit Jugendlichen als Lehrkraft. Darüber hinaus darf man auf sehr viele Helfende zurückgreifen in Gedenkstätten, Ämtern, Stadtarchiven und Bibliotheken. In letzteren sind oftmals auch alte Zeitungen zu finden, die Aufschluss geben können. Potsdam beschäftigt einen wissenschaftlichen Mitarbeiter extra für den Bereich der Erinnerungskultur, der Lehrkräften als Geschichts-Beauftragter mit Rat und Tat zur Seite steht. Eltern und Ehemalige lassen sich einspannen. Geschichtsvereine, Museen und Gemeinden zeigen sich oft auskunftsfreudig. Die Expertise lauert überall, man kann Netzwerke weben und bringt die eigene Schule so in stärkeren Austausch mit ihrer Umgebung – vielleicht auch mit einem künstlerischen Beitrag zu einer Gedenkfeier der Stadt.
(Sibylla Hesse)
Dieser Artikel von Frau Hesse, unserer langjährigen Lehrerin für Geschichte, Kunstgeschichte und Politik, ist zuerst in der Januar/ Februar 2025 Ausgabe der Erziehungskunst mit dem Themenschwerpunkt Geschichte erschienen.
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