Schule – Oberstufe
  • Foto: Ildikó Dietrich-Woitge

Oberstufe

Selbstverantwortlich ins Leben

Das neue Schuljahr beginnt, man steht in der zehnten Klasse und sieht die Damen und Herren hereinschreiten. Jetzt wird gesiezt. Der fortgeschrittenen inneren und äußeren Entwicklung der Jugendlichen wird in den Fachunterrichten Rechnung getragen: In allen Fächern geht es jetzt in die Tiefe und um die eigene Urteilskraft – sei es in der Biologie mit dem Mikroskopieren, in der Chemie mit den Elementen und dem Aufbau der Atome, in der Geschichte mit den Weltregionen, in der Malerei mit der klassischen Moderne, im Französischunterricht zum Thema Liebe oder im Englischunterricht mit Shakespeare.

In der zwölften Klasse erwerben die Schüler*innen ihre Abiturqualifikation. Einige Schüler*innen besuchen in dieser Zeit nur ausgewählte Epochen, fertigen eine letzte Jahresarbeit und nehmen am Klassenspiel teil.

Das abschließende gemeinsame Erlebnis ist die Kunstfahrt am Ende der 12. Klasse.

Dann trennen sich nach zwölf miteinander verbrachten Jahren die Wege: Die einen erlernen einen Beruf, die anderen versuchen sich am Abitur.

INHALT

Deutschunterricht

Faust fesselt
Faust machen alle. Auch die Waldorfschule. Die meisten Schüler*innen sehen darin trockenen, harten Stoff, dem sie sich in der Regel nicht mit großer Lust nähern – zumal die Jugendlichen in dieser Zeit gerne passiv sind.

Doch wenn klar wird, dass es bei der Beschäftigung mit Literatur um philosophische Ideen, um Bilder geht, in denen sich die Jugendlichen wiederfinden, dann werden Goethe, Schiller und Co. plötzlich fesselnde Lektüre.

Unbefangener Zugang zu Literatur
„Mein Ziel im Deutschunterricht ist es, dass die Schüler*innen unbefangen an Literatur herangehen – ohne jede Berührungsangst. Dazu müssen wir den Jugendlichen zeigen, dass sie etwas für sich aus der Beschäftigung mit Literatur herausziehen können“, formuliert Jan Wandtke den Anspruch an sich selbst.

Die Helden der Literatur als Sparringspartner
In der Literatur werden existenzielle Fragen behandelt, die auch die Schüler*innen umtreiben: Wo stehe ich in der Welt, wie haben andere ihren Weg gemeistert? Wie sind sie mit Themen wie Schuld und Religion umgegangen? Die Schüler*innen können in den Helden und Antihelden der Literatur Orientierung finden, ihr Profil sich als Individuum schärfen, sich selbst mit etwas Abstand betrachten. Die Texte sind also zunächst eine Anregung. Die fachlichen Inhalte wie Poetik in der 10. Klasse bzw. Aufsatzlehre und die Interpretationen in den Folgeklassen fließen dann oft fast unbemerkt in den Unterricht ein.

Die Bilder im Text erkennen
„Je älter die Schüler*innen sind, desto klarer kristallisieren sich ihre persönlichen Themen heraus. Deshalb lasse ich jede bzw. jeden von ihnen in der 11. und 12. Klasse einen frei wählbaren Begriff aus Faust erarbeiten. So lernen die Schüler*innen die im Text verarbeiteten Bilder zu lesen“, sagt Jan Wandtke.

Englisch

Aha-Erlebnisse sicherstellen
„Mir ist es sehr wichtig, dass jedes Kind, das die Schule verlässt, in SEINEM Englisch kommunizieren kann. Ich möchte nicht, dass sie irgendwelche Redewendungen auswendig gelernt haben, die nicht ihrem persönlichen Schreib- oder Sprachstil entsprechen. Sie sollen beweglich sein in der Sprache, kommunizieren können, auch ohne jedes einzelne Wort zu verstehen oder auf Englisch zu wissen. Sie sollen keine Angst haben, wenn jemand sie auf Englisch anspricht, und sie sollten antworten können, falls nötig, auch mit Einsatz von Händen und Füßen“, sagt Anne McDonough, Englischlehrerin an der Waldorfschule Potsdam. Wenn die gemeinsame Zeit vorbei ist, sollen sich die Schüler*innen ein Fundament erarbeitet haben, womit sie dann weiterkommen werden.

Selbständig forschen und üben
Dazu macht Anne McDonough so wenig Frontalunterricht wie möglich. Effektiver sind aus ihrer Erfahrung heraus Partner- und Gruppenarbeit. Bei neuen Themen gibt sie daher nur eine kurze Einführung und lässt die Schüler*innen dann forschen und üben. Sie unterstützt die Arbeit, indem sie Materialien zur Verfügung stellt, bei Fragen hilft, die Richtung und die Epochen bzw. Stunden strukturiert.

Breites Themenspektrum
„Ich habe das große Glück, ein sehr vielfältiges Fach zu unterrichten: Wir können aktuelle politische Themen behandeln, uns mit Geschichte beschäftigen, mit Wissenschaft oder einem meiner Lieblingsthemen, der Literaturanalyse – es ist alles dabei“, sagt die gebürtige Britin.

Freude weitergeben
Die Freude, die ihr die Lehre macht, möchte sie auch bei ihren Schüler*innen erreichen. Das Wichtigste ist dabei für Anne McDonough, dass die ganze Klasse Aha-Erlebnisse hat – einen Witz versteht, voller Stolz ihre Plakate und Portfolios präsentiert, eigene Kurzgeschichten schreibt oder eine Diskussion auf Englisch meistert.

Geschichte

Geschichte heißt Weltgeschichte
Während Geografie besonders für die Orientierung im Raum zuständig ist, beleuchtet Geschichte die Zeit. “In der Waldorfpädagogik liegt der Fokus auf einer Weltgeschichte als historischer Menschenkunde; R. Steiner lehnte schon in der frühen Weimarer Republik die Beschränkung auf ein deutsches National-Narrativ ab“, erläutert Sibylla Hesse, Geschichtslehrerin in der Potsdamer Waldorf-Oberstufe.

In der 5. Klasse beginnt ein erster Blick in die frühen Hochkulturen im Orient und in Griechenland. In den folgenden beiden Klassen führt der Weg über die Römische Kultur und das Mittelalter in die Entdeckungen der Renaissance und frühen Neuzeit. Mit den wirtschaftlichen und sozialen Schwerpunkten in der 8. Klasse und der politischen und Ideengeschichte in der 9. Klasse ist man im 21. Jahrhundert angelangt.

Orientierung in der Zeit
In der 10. Klasse beginnt der zweite Durchgang mit den ältesten Funden der Menschheit vor Millionen von Jahren, der Sesshaftwerdung („Neolithische Revolution“), den frühen Hochkulturen bis hin zur altgriechischen. Die 11. Klasse vertieft Antike und Mittelalter; erstaunlich, wie viele Details unseres Alltags wir diesen Zeiten verdanken.

In der 12. Klasse werden Themen der letzten 200 Jahre behandelt; außerdem bietet die Überblicksepoche anhand eines Leitthemas (z.B. Kindheit und Jugend, Tod und Jenseitsvorstellungen, Globalisierung) einen dritten Durchgang. Danach verengt sich das Themenspektrum auf die Abitur-Schwerpunkte.

Wertvolle Methodenkompetenz
Historische Methoden wie Quellenanalyse, Vergleich, Kartenarbeit etc. begleiten die Schüler*innen auf durchgehend steigendem Niveau, um das historische Denken zu fördern. „Zwei Elemente unterscheiden uns besonders stark vom Geschichtsunterricht an Regelschulen: die möglichst bildhafte Erzählung der Lehrkraft und die Konzentration in den ca. dreiwöchigen Epochen, was zum Eintauchen in die alten Zeiten einlädt. Statt Schulbuch schreiben wir weiterhin unser Epochenheft“, so Sibylla Hesse.

„Ich ergänze den Gang in die Vergangenheit gerne um den stets erwünschten, tagesaktuellen ‚Aufwärmer‘, dessen Inhalte von den Schüler*innen vorgeschlagen werden“, fügt die Lehrerin hinzu.

Kunstgeschichte

Kunstwerke verstehen und einordnen
Anders als in der Regelschule wird Kunstgeschichte an Waldorfschulen als separates Fach unterrichtet, und zwar ab der 9. Klasse. Für Lehrerin Sibylla Hesse ist Kunstgeschichte ein essenzielles Fach: „Die Schüler*innen der 9. Klasse lernen beispielsweise Werke zwischen Höhlenmalerei und italienischer Renaissance kennen. Ziel ist es hier jedoch nicht nur, Plastik und Malerei zu beschreiben und sie stilsicher zu erkennen. Die Schüler*innen können anhand dieser Zeitreise auch eine lange Phase menschlicher Darstellungen nachvollziehen.“

Vom Abbild zum gegenstandsfreien Bild
Die Kunstbetrachtung in der 11. Klasse widmet sich vorwiegend der Malerei zwischen Caspar David Friedrich und der Klassischen Moderne, en passant über Impressionismus und Expressionismus. „Im Zentrum steht der Übergang vom Abbild zum gegenstandsfreien Bild“, so Sibylla Hesse.

Architekturkritik an der Haltestelle
In der 12. Klasse wird die Baukunst mit ihrem Zusammenhang zwischen Ästhetik, Statik und Funktion in den Jahrtausenden von den Pyramiden bis zur Postmoderne behandelt. „Dabei zeigt sich, dass Architektur jede*n betrifft. Ich freue mich immer besonders, wenn sich die Schüler*innen der 12. Klasse am Ende der Baukunstepoche ihre Wartezeiten an Bahnhof oder Bushaltestelle verkürzen, indem sie die gebaute Umgebung kritisch betrachten“, berichtet Sibylla Hesse.

Je nach Ziel der Kunstfahrt liegt ein Schwerpunkt auf Griechenland, Italien etc. Im Epochenheft dokumentieren die Jugendlichen ihre Erkenntnisse in Worten und Zeichnungen.

Mathematik

Eine Kiste voller Werkzeuge
Wie teile ich 5 Muffins auf 10 Personen auf? In einer Familie mit kleinen Kindern ist das weit mehr als eine Frage. Es ist ein echtes Problem. Die Lösung kennt nur die Mathematik.

Mehr als Rechnen
„Mathematik ist mehr als Rechnen. Rechnen ist ein Werkzeug der Mathematik, um Probleme zu lösen. Im Fall der Muffins lässt sich das Problem auf eine abstrakte und sehr allgemeine Ebene bringen: die Bruchrechnung“, erklärt Mathematik- und Physiklehrer Jaison Kavalakkatt.

Rätsel und Lösungen
In den höheren Klassen geht es immer mehr um diese abstrakte Ebene, damit die Schüler*innen das jeweilige Thema wirklich durchdringen. „Gelingt ihnen das, können die Schüler*innen auch nach einem größeren Zeitraum die erarbeiteten Zusammenhänge wieder nutzen.

Wer gut mit den Werkzeugen der Mathematik zurechtkommt, für den ist jede gestellte Aufgabe ein Rätsel, das gelöst werden will“, so Jaison Kavalakkatt.

Mathematik ohne Zahlen
Ein häufig genutztes Werkzeug, um mathematische Zusammenhänge zu erarbeiten, ist auch die Geometrie – zum Beispiel, um den Satz des Pythagoras herzuleiten. Mathematik kommt teilweise aber auch gänzlich ohne Zahlen aus. „Ein Höhepunkt in der Mathematik der 11. Klasse ist die projektive Geometrie. Hier werden der Unendlichkeitsbegriff allein aus geometrischen Zeichnungen erschlossen und die damit zusammenhängenden, sehr komplexen Kuriositäten durchdacht“, berichtet Jaison Kavalakkatt.

Theaterspiel

Kreativer Prozess mit klarem Ziel
„Theater ist immer sowohl eine Suche nach der Bedeutung als auch ein Weg, diese Bedeutung anderen zugänglich zu machen“, schreibt Peter Brook. Umso verwunderlicher, dass „Darstellendes Spiel“ noch immer keinen festen Platz an allen Schulen in Deutschland hat.

Anders an der Waldorfschule Potsdam: Hier ist das Theaterspielen fester Teil des Lehrplans. Schon in den unteren Klassenstufen wird in kleinen Szenen, Rollenspielen und vor allem chorischer Arbeit Sprache gestaltet und gepflegt.

Drei fest eingeplante Theateraufführungen
Erstmals mit einem Theaterspiel auf die Bühne gehen die Schüler*innen in der 6. Klasse. „Nach sechs Jahren Unterricht verbeugen sich die Schüler*innen mit einem russischen Stück noch einmal vor dieser Sprache, bevor in der 7. Klasse Französisch zweite Fremdsprache wird“, so die Lehrerin und Theaterpädagogin Claudia Bathke.

Die Achtklässler arbeiten dann mit einem Regisseur, Lehrern, Musikern und Eltern an ihrem selbst gewählten Stück, das sie schließlich der Schulgemeinschaft darbieten.

Für das Klassenspiel der 12. Klasse werden ebenso in der Gruppe zunächst Stücke gelesen und vorgestellt. Die Schauspielarbeit beginnt mit Vertrauens-, Konzentrations-, Wahrnehmungs- und Improvisationsübungen. Die Schüler*innen leben sich ein in die Geschichte und die Figuren. Dann folgen Dramaturgie und Aufteilung in Arbeitsbereiche. Nach dreiwöchiger Intensivprobenzeit wird das Stück aufgeführt.

Wichtige Unterstützung der Heranwachsenden
Die Theaterarbeit in der 8. Klasse unterstützt die Selbstfindung der Schüler*innen. Die Sprache kann in der Pubertät „geradezu erlösende Wirkung“[1]haben, da sie der Schwere und Unbeholfenheit des Körpers die Identifikation mit einer Rolle entgegensetzen kann. 

In der 12. Klasse bildet das Klassenspiel den Abschluss der gemeinsamen Schulzeit vor der individuell gestalteten Studiums- bzw. Berufsperspektive. Die Schüler*innen erarbeiten sich in Arbeitsgruppen ihr Theaterstück – von der Dramaturgie, Regieassistenz und Terminplanung über Beleuchtung, Kulissen, Requisiten und Kostüme bis zu Musik, Werbung, Programmheft, Soufflieren und Kassenführung.

Lern-, Erfahrungs- und Entwicklungsräume
Wir verstehen Theater als Bündelung aller Seinsebenen: der Umgang mit den eigenen Gefühlen, das Ausdrucksvermögen des Körpers und der Sprache, die Kräfte und Dynamik im Sozialzusammenhang, Betrachtung gesellschaftlicher Schieflagen und künstlerische Gestaltungsmöglichkeiten auf der Bühne. Diese Vielfalt verdeutlicht die Bedeutung des schöpferischen Prozesses.

Trotzdem ist das Klassenspiel keine reine Selbsterfahrungsveranstaltung. Theater wird immer für andere gemacht[ Vgl. 2]. Die Theaterarbeit an der Waldorfschule Potsdam fördert die Entwicklung der Selbstständigkeit des Einzelnen und der Gruppe. Die Integration der Theaterarbeit in den schulischen Rahmen bedeutet, dass sie pädagogisch als Lern-, Erfahrungs- und Entwicklungsraum dient.

„Für mich sind die intensiven Probenzeiten die schönsten im Schuljahr: Mit der Konzentration auf eine Klasse, einen Stoff und einen lebendigen Prozess steuern wir entspannt-gespannt auf ein unbekanntes Ziel in der Zukunft!“

[1] Peter Brook: Das offene Geheimnis. Frankfurt/M. 2001, S. 110

2 GIFFEI, Herbert: Ernsthaft nach dem 1. Weltkrieg. Das Theater der Jugend von den 20er bis zu den 60er Jahren. In: Chiout, Hans/ Wilhlem, Edgar (Hg.): Spielräume-Spielträume. Das Theater der Jugend und sein Treffen. Berlin1989. S. 20­­­–­­27.
[2] RIEGEL, Enja: Schule kann gelingen. Bonn 2004.S. 95.