Kleiner Einblick in die Forschung zum Waldorf-Geschichtslehrplan

Bei Begriffen wie „Zeitenwende“ oder „neue Ära“ bemerken historische Laien derzeit, dass der „Stoff“ im Geschichtsunterricht beständig anwächst. Da sich die Unterrichtszeit nicht beliebig vermehren lässt, muss Anderes weggelassen werden. Damit stellt sich die Frage nach den Kriterien: Was prägt uns heute so, dass wir es unbedingt behandeln und verstehen müssen, was ist zwar Kulturgut, aber doch eher so „nice to have“ für Quizsendungen?

Ein neuer Lehrplan
Der Bund der Freien Waldorfschulen hat unseren Lehrplan runderneuert (→ https://www.forschung-waldorf.de/lehrplan/) und dabei Geschichte nicht ausgespart. Auch in diesem Fach erarbeitet eine Gruppe erfahrener Lehrkräfte auf Forschungstagungen, wie der Lehrplan weiterzuentwickeln ist. Federführend für „Forum Geschichte“ bleibt Prof. em. M. Zech.

Die Breite der Ereignisgeschichte kann kein Lehrplan abbilden, Stunde für Stunde müssen wir neu überlegen, was wir warum auswählen. Hier kommt der Gegenwartsbezug ins Spiel: Um z. B. Trumps Politik heute ansatzweise zu verstehen, lohnt ein Rückblick auf die abwechselnden Phasen US-amerikanischer Expansion vs. Selbstgenügsamkeit. Auch Fragen aus der Klasse können Anlass zu Längsschnitten bieten, etwa „Warum haben sich die Menschen nicht gewehrt?“ Hier lassen sich Rückgriffe auf die Andersartigkeit früherer Zeiten nutzen, kurz: Alteritätserlebnisse schaffen, die besonders wichtig sind zum gegenseitigen Verständnis in unseren von Migration geprägten Klassen.

Neue Fragestellungen
Jede Zeit hat ihre blinden Flecken. So wollten wir Deutsche mehrheitlich lange nicht anerkennen, welche Menschenrechtsverletzungen wir in der kaiserzeitlichen Kolonialpolitik begangen haben. Um mehr Objektivität zu ermöglichen, müssen Lehrpläne also dekolonialisiert werden. D. h., nicht mehr zu verantwortende Leerstellen im historischen Narrativ zu lokalisieren und neue Quellen z. B. aus dem globalen Süden zu finden, um die Einseitigkeiten zu kompensieren und dem Ziel multiperspektivischer Geschichtsbetrachtung näher zu kommen. Während Lehrpläne in den Bundesländern weiterhin nationalistisch bzw. eurozentrisch fokussiert bleiben, können Waldorfs den Blick über den Tellerrand in die Kultur- und Menschheitsgeschichte erweitern (bis am Ende im Brandenburger Abitur wieder mindestens die Hälfte der vier Schwerpunkte germanozentrisch fixiert ist).

Neue Erkenntnisse
Um beim Kolonialismus zu bleiben, ein harmloser kleiner Fun-Fact: Wo befindet sich die Spitze des Kilimandscharo? In Potsdam. Die nach einer Beschädigung übriggebliebenen Brösel dieser Spitze sind in die Wand eines Saals im Neuen Palais montiert. Im Skulpturenschmuck des Parks Sanssouci zeigt ein Rondell Frauen-Büsten mit „afrikanischen“ Gesichtszügen – die Beispiele kolonialer, teilweise rassistisch gefärbter Spuren in Potsdams Stadtbereich ließen sich vervielfältigen und werden von interessierten Bürger*innen weiter erforscht.

Pädagogische Forschungsfinanzierung
Die Treffen der ca. 25 im Bereich Waldorf-Geschichtsunterricht Forschenden und ihrer ca. 30 Projekte müssen zumindest teilfinanziert werden. Einmal jährlich tragen wir uns gegenseitig neue Ergebnisse und Fortschritte vor. Die gemeinsam verantworteten Publikationsvorhaben müssen zwei- bis dreimal pro Jahr koordiniert und ausdiskutiert werden – mal online, mal an einschlägig passenden Museen. Wer schreibt, bekommt dafür zumeist kein Geld, aber die Tagungen werden von der Pädagogischen Forschungsstelle finanziert.

Und hier kommen Sie ins Spiel, liebe Eltern: Jede Waldorfschule entrichtet aus den Elternbeiträgen einen festen Satz pro Schüler*innen und Jahr, damit solche Forschung möglich ist. Dafür möchte ich mich bei Ihnen ausdrücklich bedanken!

(S. Hesse)