Alljährlich verbinden sich die ersten Frühlingsstrahlen an unserer Schule mit den Abiturprüfungen in den Fächern Französisch und Kunst. Ein feierlicher Moment für die AbiturientInnen aber auch für die Prüferinnen. Ein mehrmonatiger Prozess der intensiven Auseinandersetzung mit einem persönlich gewählten Thema aus den Bereichen Gesellschaft, Politik, Kultur mit Bezug zur Frankophonie geht zu Ende.
Die Tür zum Prüfungsraum öffnet sich. Eine junge Bäuerin mit Gemüsekorb betritt den Raum. Sie stammt aus der Normandie und arbeitet auf dem Hof Bec-Hellouin. Sie berichtet leidenschaftlich von ihrem Hof und der Arbeitsweise, dem Versuch im Einklang mit der Natur zu leben. Sie hat ein Bild ihres Mosaikgarten mitgebracht. Er lädt zum Träumen ein. Aber geträumt wird später. Denn vor der Tür wartet schon eine französische Aktivistin aus Toulouse. Wir sind nun mitten im Jahr 2028 im Capitol von Toulouse und es ist der 10. Gedenktag für die Bewegung der Gilets Jaunes. In einem Rückblick berichtet sie von den Höhen und Tiefen der Bewegung und von der Gründung ihrer Partei „Mouvement des citoyens pour demain“. Hinterher wird die Aktivistin interviewt und erklärt, wie die Unterschiede in der Ausübung von Polizeigewalt in Frankreich und Deutschland zu erklären sind. Ihre ernsten Antworten werden durch die fröhlich leuchtenden gelben Ohrringe in Form von Gelbwesten aufgeheitert.
Draußen auf dem Schulhof Kinderstimmen und der Prüfungsraum weiterhin sonnendurchflutet.
Ein junger Saxophonist betritt den Raum. Nach den Klängen von „Fly me to the Moon“ von Bart Howard berichtet er von den „roaring twenties“ und von Josephine Baker, einer afroamerikanischen Tänzerin und Sängerin, die Ende der 20er Jahre nach Frankreich kam, später in der Résistance gegen die Nazis aktiv war und sich zeitlebens für die Rechte der Schwarzen einsetzte. 2021 wurde sie im Panthéon von Paris beigesetzt. Sie ist eine von sechs Nationalheldinnen neben 79 Nationalhelden. Die ungleiche symbolische Bewertung weiblicher Leistungen in Frankreich wartet noch auf eine kritische Beleuchtung in kommenden Abiturjahren.
Nachdem Josephine Baker den Raum verlassen hat, betritt eine junge französische Anwältin den Raum. Sie hat ein ernstes Anliegen. In der République Française du Congo arbeiten Kinder in Kobaltminen. Ungeschützt und ohne angemessene Bezahlung sorgen sie mit ihren kleinen Händen dafür, dass das erforderliche Kobalt für unsere Smartphones gewonnen wird. Leidenschaftlich appelliert sie, pfleglicher mit den Handys umzugehen und wenn überhaupt erforderlich ein Fairphone zu kaufen.
Die Sonne im Prüfungsraum verfinstert sich zusehends.
Eine großgewachsene junge Frau betritt den Raum. Ihre Miene ist ernst und verletzlich. Sie berichtet als Zeugin von einem sehr ernsten und bis heute vollständig tabuisierten Thema: Es geht um die sogenannte MGF (mutilation génitale féminine) die an afrikanischen Mädchen auf der ganzen Welt ausgeübt wird. Zu viele Mädchen und Frauen leiden ein Leben lang unter den Folgen dieses Eingriffs. Die Welt darf vor diesem Missstand nicht länger die Augen verschließen. Ein mutiger und sprachlich nicht einfacher Bericht.
Zu erwähnen sind ebenfalls die Berichterstattungen von der Lage in den Banlieues der französischen Großstädte, den Möglichkeiten die Situation der Drogenabhängigen zu verbessern, oder von Photographen, die kritisch die Rolle der Frau, den Zustand des Planeten dokumentieren oder von der Energiegewinnung auf der Insel La Réunion, von der Permakultur, den éco-quartiers in Paris. Die diesjährige Themenliste ist lang und interessant, die AbiturientInnen gut vorbereitet.
Nun sind die Prüfungstage vorbei. Zurück bleibt der Eindruck, dass bald junge nachdenkliche Menschen von der Erich-Weinert-Straße aus in die Welt aufbrechen werden. Wir wünschen ihnen viel Glück für die bevorstehenden Prüfungen in den kommenden Monaten und bedanken uns für die interessanten Momente, die sie uns geschenkt haben.
(Katharina Pape)